Tim Bernhard vom Paulinenhof und Katrin Mohr vom Wilmshof bieten mir die Gelegenheit, bei zwei Weinlesen mit der Hand („Handlese“) dabei zu sein, und auch einen Traubenvollernter erlebe ich in voller Aktion.
In Rheinhessen sind wir mittendrin in der Weinlese. Überall fahren Trecker und Vollernter durch Dörfer und Weinberge. Beim Joggen grüße ich immer wieder einen Winzer in seinem Trecker oder einen Vollernter-Fahrer. Wenn ich aber schon in einem Weindorf lebe, dann will ich endlich wieder auch bei einer Weinlese dabei sein, wenn auch nur als Zuschauer.
Inhaltsverzeichnis
Weißburgunder-Handlese mit dem Paulinenhof
Morgens halb zehn in Deutschland. Ich bin mit dem Auto auf der Landstraße 432 von Hahnheim in Richtung Sörgenloch unterwegs. Kurz vor Sörgenloch werde ich langsamer, denn ich suche den Wirtschaftsweg, der hier rechts nach oben in die Weinberge und den Hang hinaufführt. Dann sehe ich ihn auch schon, fahre an einem Kreuz vorbei und stelle den Wagen kurz darauf am Wingert ab.
Heute Morgen noch habe ich mit Tim Bernhard vom Paulinenhof für letzte Instruktionen zur Anfahrt telefoniert. Vor ein paar Tagen hatte ich mich für eine Weinlese interessiert, und er hatte mir angeboten, bei einer Handlese dabei zu sein. Gestern hatte er abends angerufen und mir eine Nachricht hinterlassen. Heute ist die Familie Bernhard im Wingert zur Handlese von Weißburgunder. Tim begrüßt mich, und schnell begleite ich ihn bei der Lese zwischen den Rebstöcken.
Eine Handlese ist bei uns rund um Selzen, so wie generell bei der Weinlese in Deutschland, unüblich geworden. Ein „Traubenvollernter“, eine landwirtschaftliche Maschine für die Weinlese, ist viel schneller als es Menschen sein können. Ein Fahrer startet einen Vollernter an einer Rebenreihe, die Rebstöcke und das Blätterwerk werden gerüttelt, und die abfallenden Trauben werden eingesammelt und in einem Zwischentank gesammelt. Von Zeit zu Zeit werden die Trauben dann in einen Anhänger geladen, der die Traubenernte zur weiteren Verarbeitung beispielsweise in das Weingut bringt.
300.000 Euro kann so ein Vollernter je nach Ausstattung schon mal kosten. Doch Vollernter sind schnell, und moderne Vollernter können nicht nur reife und unreife Trauben unterscheiden, sie können sogar faule Trauben aussortieren. Vermutlich, so denke ich mir, ist auch hier dem Preis keine Grenze gesetzt.
In zwei Situationen wird dennoch eine Handlese vorgezogen: Ein Wein soll besonders hochwertig ausgebaut werden, oder der Weinberg ist so steil, dass der Vollernter nicht fahren kann. Der Wingert, in dem ich jetzt mit Tim stehe, ist aber gar nicht steil. Warum also, frage ich Tim, wird hier mit der Hand gelesen?
Tim war im Ausland, um zu lernen. Spanien war eine seiner Stationen, Südafrika eine weitere. In Südafrika war er für drei Monate in einem Weingut, und er konnte dort auch viele andere Weingüter besuchen. In dieser Zeit lernte er die im Barriquefass ausgebaute Rebsorte Chenin Blanc zu schätzen.
Chenin Blanc, auch Chenin blanc, ist eine weit verbreitete, alte Weißweinsorte, die in Frankreich (in Anjou – Touraine) schon seit dem 9. Jahrhundert angebaut wird. Die Sorte ist sehr ertragreich, und wenn der Ertrag begrenzt wird, ist die Qualität des aus ihr erzeugten Weißweines exzellent.
(Seite „Chenin Blanc“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 4. April 2018, 00:00 UTC. (Abgerufen: 21. September 2018, 06:26 UTC))
Jetzt will Tim mit einem Weißburgunder Reserve aus diesem Weinberg einen ähnlichen Wein ausbauen: Weich, samtig und gehaltvoll soll er werden. Bei der Handlese können geübte Leser sehr genau schauen, und nur die besten Trauben nehmen. Inzwischen ist es schwierig, qualifizierte Handleser zu bekommen. Je mehr Leute bei einer Handlese die Trauben ernten, desto schlechter wird daher im Schnitt die Qualität.
Heute sind für das Weinprojekt bei der Handlese nur Familie und Mitarbeiter dabei. Lediglich Tims Vater, Rolf Bernhard, vermisse ich. Die besten Trauben werden heute geerntet. Bei der Handlese werden vorwiegend die „lockerbeerigen“ Trauben geerntet. Die Trauben sitzen locker in einer Rebe zusammen. Lockerbeerige Trauben bekommen genug Licht und Luft, können sich sehr gut entwickeln und haben viel Aroma. Sie sind meistens weiter unten am Rebstock. Weiter oben sind „Herlinge“, die unreifen Trauben, die nicht mitgelesen werden.
Als ich schon fragen will, was mit den hängengebliebenen Trauben geschieht, klärt mich Tim auf: Später wird hier noch einmal ein Vollernter durchfahren und die restlichen Trauben einsammeln. Wie viel schneller so ein Vollernter denn sei, will ich wissen. Tim zieht einen Vergleich: Für eine Ernte, für die ein Vollernter eine Stunde braucht, stehen, gehen und bücken sich Handleser einen ganzen Tag.
Während ich Tim löchere, folge ich ihm durch die Reihen der Rebstöcke. Gelegentlich, wenn der Eimer voll ist, geht er zur Straße und lehrt den Eimer in den Container im Traktoranhänger.
Bei der Weinlese ist nicht nur die Lese selbst wichtig, sondern auch der Transport sowie die maschinelle Belastung (wie durch Pumpen) entscheiden über den Wein. Trauben können bei warmem Wetter in Kühlanhänger gebracht werden, damit sie nicht vorzeitig anfangen zu gären. Heute am Morgen ist es sonnig, doch die Trauben an den Rebstöcken sind noch kühl.
Ich frage Tim etwas über die Weinberge des Paulinenhofs aus. Dieser Wingert hat etwa einen halben Hektar (1 Hektar = 10.000 Quadratmeter, d.h. eine quadratische Fläche mit 100 Metern Seitenlänge). Insgesamt hat der Paulinenhof Weinberge mit etwa 25 Hektar. Ihr Vorteil sei, dass die Weinberge zwischen Mommenheim und Sörgenloch lägen, alle auf dieser Seite. So bräuchten sie mit dem Traktor maximal 10 Minuten zu einem Weinberg. Es gäbe Winzer, die bräuchten mit ihrem Traktor schon mal eine Stunde bis zu einem Weinberg.
Der Weinberg ist leicht ansteigend, und er hat eine sehr gute Südwestlage. Das bringt viel Sonne, was gut für die Reben ist – auch wenn es dieses Jahr fast zu viel Sonne war. Der Boden ist hier ein weiterer Vorteil, meint Tim: Es gibt viele Kalksteine, die einerseits Hitze abstrahlen und andererseits viele Mineralien haben. Durch den hohen pH-Wert der Kalksteine wird der Boden nicht so sauer. Für mich klingt da der Begriff „Terroir“ durch.
Irgendwie ist es mir zu still. Von Selzen bin ich es gewohnt, ständig Schüsse zu hören. Überall stehen die Schussanlagen, die mit lauten Schreckschüssen hungrige Vogelschwärme vertreiben. Wir seien hier in Sörgenloch, meint Tim. Hier gäbe es noch einen klassischen Wingertsschützen (siehe „Der Hüter der Weintrauben„). Der Wingertsschütze nutzt Aussichtspunkte wie auf manchen Wingertshäuschen, läuft durch die Weinberge und vertreibt die Vögel mit Schreckschüssen. Die Winzer legen zusammen und bezahlen ihn. Bei großen Flächen lohnt sich das nicht mehr, dort haben die Schussanlagen meist die Wingertsschützen abgelöst.
Ich komme zurück auf die Rebstöcke. Tim hat mir erzählt, dass die Rebstöcke dieses Wingerts etwa 15 bis 20 Jahre alt sind. Wie alt werden Rebstöcke?
Rebstöcke können durchaus 25 Jahre oder älter sein und noch eine gute Traubenernte liefern. Doch oft werden Rebstöcke nach 20 Jahren ersetzt. Beispielsweise können einzelne Rebstöcke erkranken und ausfallen. Einzelne Rebstöcke zu ersetzten, lohnt sich nicht – auch nicht, wenn es in einem Weinberg in Summe viele sind. Ein Rebstock brauch etwa drei Jahre bis er zur Ernte beitragen kann. Werden einzelne ausgefallene Rebstöcke nach zehn Jahren ausgetauscht, und nach 20 Jahren wird der Weinberg neu gesetzt, dann waren sie nur für wenige Jahre produktiv.
Auch der Klimawandel kann der Grund für den Austausch der Rebstöcke eines Weinbergs sein. So könnten die Rebsorten Müller-Thurgau und Portugieser hier aussterben oder zumindest weiter nördlich wandern. Andererseits dürfte der Chardonnay aromatischer werden. Merlot ist eine Rebsorte, die es früher in Rheinhessen nicht gab. Inzwischen bauen immer mehr Winzer diese Rebsorte an.
Inzwischen bin ich schon über eine Stunde hier, und auch die Bernhards sind mit der Handlese fertig. So verabschieden wir uns, und ich fahre am Kreuz vorbei zur Straße und durch den Wahlheimer Hof und Hahnheim zurück nach Selzen.
(Alle Fotos sind im Flickr-Album „Weißburgunder-Handlese mit dem Paulinenhof„)
Traminer-Handlese mit dem Wilmshof – und ein Vollernter
Doch anstatt nach Hause zu fahren, biege ich in die Bergstraße ein und folge ihr hinaus aus Selzen zum Selzer Berg hinauf. Gestern hat mir Katrin Mohr vom Wilmshof eine Mail geschickt. Sie seien heute im Eichelstein für eine Handlese von Gewürztraminer-Trauben. Sie würden um 9 Uhr starten, und um 11:45 Uhr käme noch ein Vollernter für den geraden Teil. Ob ich nicht Interesse hätte, für Fotos oder eine Story vorbeizukommen?
Klar hatte ich das, doch ich hatte Tim schon zugesagt. Andererseits: Da am Berg ist die Steigung bestimmt recht groß. Und dann noch ein Vollernter, toll. Also habe ich ihr heute Morgen kurz geantwortet, dass ich vielleicht noch vorbeikomme. In der Tat hat es terminlich geklappt. Es ist jetzt noch vor 11 Uhr, und ich sehe schon ein paar Wagen und Trecker in den Weinbergen. Und dort, in der Steigung sehe ich durch das Blattwerk ein paar Leute.
Vorhin habe ich Tim gesagt, dass ich noch zu Katrins Weinlese fahre, und dass da noch ein Vollernter kommen werde. Das wäre dann sein Vater mit dem Vollernter, das wäre „sein Hobby“. Das war auch die Auflösung, warum Rolf nicht bei der Handlese dabei war. Der Paulinenhof hat einen eigenen Vollernter, und so ein teures Gerät muss während der Weinlese ständig im Einsatz sein.
Zunächst einmal freue ich mich aber auf Katrin und ihre Helfer. Werner, ihren Vater, erkenne ich auch gleich. Dazu Tom und Susanne und noch ein paar Leute. Ich war 100 Meter abseits an der Seite hochgelaufen und komme jetzt von oben an den Wingert und winke Katrin zu.
In zehn Reihen stehen die Traminer-Rebstöcke in der Steillage. Hier sei eine maschinelle Lese aufgrund der Steigung nicht möglich, meint Katrin. Deswegen muss mit der Hand gelesen werden. Ich schätze, dass der Boden eine Neigung von etwa 50 bis 60 Grad hat. Unten, am Ende der Reihen, ist ein Weg, danach kommen weitere Rebstockreihen, wo der Boden aber nur wenig Neigung hat. Dort sei der zweite Wingert mit Traminern, meint Katrin. Dafür käme später noch der Vollernter.
An den Roten Traminer kann ich mich gut erinnern. Natürlich kann man Wein verschieden ausbauen, so wird der Traminer im Elsass oft halbtrocken oder lieblich ausgebaut. Bei Katrin ist er jedoch trocken, und ich trinke ihn gerne in der Gutsschänke. Ich glaube, er hat die Nummer 37 auf der Karte.
Wir sind hier in einer der steilsten Lagen der Gegend. Nur wenige Weinberge in der Gegend müssen mit der Hand gelesen werden, weil der Hang zu steil ist. Dabei spielt nicht nur die Steillage des Weinberges für die Lese eine Rolle. Ein Weinberg sollte auch gut mit Treckern und ihren Anhängern angefahren werden können.
Katrin erzählt, dass der Wingert bereits ihrem Opa gehört hätte. Ihr Opa hätte hier damals Riesling angebaut. Aber oberhalb des Wingerts hätte ein Weg gefehlt. „Hm, da ist aber doch einer„, denke ich mir. Dann erzählt Katrin, dass Amerikaner im Hang für ihren Opa gesprengt hätten. Und so kam es, dass ihr Opa dort einen Weg anlegen konnte.
Das Tolle am Gewürztraminer sei, dass die Trauben auch so schmecken würden, wie später der Wein schmeckt. Rieslingtrauben beispielsweise würden gar nicht gut schmecken (okay, eigentlich sind es die Beeren, die man isst, und nicht die ganze Traube, d.h. die Rispe). Katrin reicht mir eine Traube (also eine Rispe mit vielen Beeren daran) vom Traminer. Die Beeren schmecken wirklich großartig.
Die Weinlese ist hier am Hang ganz schön anstrengend. Während ich genüsslich die Beeren vertilge, nehmen Katrin und die anderen Leser immer wieder den schweren Eimer und heben ihn über ihre Köpfe und über die Rebstockreihe. Auf der anderen Seite ist Tom mit der Bütt (keiner sagt hier „Bütte„) auf dem Rücken, und die Leser kippen die Trauben in die Bütt. Dadurch ersparen es sich die Weinleser, jedes Mal mit dem vollen Eimer zum Anhänger hinunterzukraxeln, und dann wieder heraufzukraxeln. Dafür hat Tom die immer schwerer werdende Bütt auf dem Rücken. Sobald die Bütt voll ist, kraxelt er zum Wagen hinunter und kommt dann keuchend wieder hoch. Ich konzentriere mich verlegen auf den Genuss der Beeren.
So eine Steillage hat nicht nur Nachteile. Außer dem günstigen Sonnenwinkel bietet die obere Hanglage beispielsweise den Vorteil, dass es hier nicht so schnell gefriert. Im Tal sammelt sich manchmal der Frost. Während im letzten Jahr in den unteren Weinbergen viele Trauben erfroren, blieb es diesem Wingert erspart.
Derzeit seien Bukettweine im Trend, also Weine von Rebsorten mit einem besonders markanten bis würzigem Aroma. Dazu gehören die Scheurebe und eben auch der Traminer. Außerdem sind Bukettweine gut fürs „Aufpeppen“ von Weinen. Bei Weinen dürfen bis zu 15 Prozent eines anderen Weines zugefügt werden, ohne dass dies ausgewiesen werden muss. Damit können Winzer einem Wein eine zusätzliche Note oder einen zusätzlichen Pepp verschaffen. Ich hoffe natürlich, dass es in Katrins Gutsschänke weiterhin den Roten Traminer gibt.
Unten donnert ein Vollernter heran. Das muss Rolf sein. Richtig, er biegt über eine Rebstockreihe ein und fährt los. Während hier oben die Leser eine Traube nach der anderen abschneiden, in den Eimer geben, sie aus dem vollen Eimer in die Bütt kippen, Tom hinunter und wieder herauf keucht – fährt der Rolf den Vollernter einfach so hin und her durch den Weinberg. Es sieht so einfach aus, aber wahrscheinlich erfordert es auch viel Übung und Konzentration.
Ich blinzle in die grelle Sonne. Es sollen heute wieder 30 Grad werden. Früher war alles … anders. Da ging man „in den Herbst“, weil die Weinlese im Herbst war. Inzwischen ist die Weinlese immer früher, und oft schon im August. Im Herbst war es dann auch schon mal kalt und regnerisch. Außerdem gab es früher nur die Handlese, so dass innerhalb von vier bis fünf Wochen durchgehend mit vielen Leuten gelesen werden musste, egal wie schlecht das Wetter war. Ach, früher.
Früher waren die Sommerferien kürzer, und der Termin für die Herbstferien wurde erst festgelegt, wenn der Start der Weinlese feststand. Nur so konnten die Söhne und Töchter ihren Eltern bei der Lese helfen, und andere Jugendliche konnten sich in den Herbstferien mit harter Arbeit etwas Geld verdienen. Manuela kann ein Lied davon singen.
Mittlerweile hat sich das entspannt. Das liegt beispielsweise an den Erntemaschinen (Vollerntern) und den Möglichkeiten zur Kühlung. Also geschieht es durchaus, dass man kurzfristig loslegen kann („Jetzt ist die Reife, jetzt holen wir die Reben rein.„).
Inzwischen legen Katrin und ihre Leute eine Pause ein. Unten im Wagen gibt es Schatten und Getränke. Ich nutze die Gelegenheit, um mir den Vollernter näher und in Aktion zu betrachten. Rolf fährt den Vollernter zum Trecker und dem Anhänger, um die Beeren aus der oberen Wanne über ein Rollband hineinzukippen. Und plötzlich ist Rolf mit dem unteren Weinberg vom Wilmshof fertig und fährt schon durch den nächsten Weinberg, während Katrin mit ihrem Weinberg am Hang nach zwei Stunden immer noch nicht fertig ist.
Immerhin, es ist schönes Wetter. Sicher, fast zu schön und zu warm. Aber früher, da wäre jetzt vielleicht Anfang Oktober, es wäre kalt, und es würde regnen. Ich beschließe, den restlichen Tag fürs Arbeiten auf der Terrasse zu nutzen und verabschiede mich.
Am nächsten Tag werde ich dann feststellen, dass die Temperatur um 10 Grad gesunken ist, und dass es regnet.
So, als ob es Anfang Oktober sei.
(Alle Fotos sind im Flickr-Album „Traminer-Handlese mit dem Wilmshof„)