Ich bin dankbar. Dafür, dass es Manuela und mir so gut geht. Das wollte ich einfach mal loswerden. Und gleich mal ein paar Wünsche loswerden.
Heute vor 59 Jahren feierten meine Eltern Weihnachten in ihrer Wohnung. Zum ersten Mal hatten sie an Weihnachten fließend Wasser. Ein Bad oder eine Dusche hatten sie deswegen noch lange nicht. Das Klo war im Hof zwischen Mistkaut und Kuhstall. Gebadet wurde einmal in der Woche samstags in einer verzinkten Blechwanne. Der einzige Luxus in der Wohnung war ein Kohleofen.
Wie gut geht es dagegen Manuela und mir. Ein Druck auf den Startknopf, und die Spülmaschine erledigt die Arbeit. Oder die Waschmaschine. Oder der Wäschetrockner. Der Saugroboter startet automatisch zu festgelegten Zeiten. Wir haben zwei Autos (ungern und nicht absolut zwingend, aber auf dem Land eben viel, viel besser). Ihr erstes Auto, einen gebrauchten VW Käfer, kauften meine Eltern in den Siebzigerjahren. Ich bekam mein erstes Auto, einen Opel Kadett D, zu meinem Abitur von meinen Eltern. Geschenkt! Meine Eltern fuhren jahrelang und täglich mit auf Kredit gekauften Fahrrädern zur Arbeit, selbst noch als sie den VW Käfer hatten. Meine Mutter arbeitete immer Frühschicht. Mein Vater im Wochenwechsel Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Das gab Zulage. Besonders, wenn das am Wochenende war.
Mein Vater hat selbst in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch an Weihnachten die Geschenke penibel und sorgfältig ausgepackt. Das Geschenkpapier hat er zusammen- und beiseitegelegt für die Weihnachtsgeschenke an andere im nächsten Jahr. Mein Vater war ein stiller Mensch, er hat nie geklagt, sondern das Beste aus jeder Situation gemacht. Nie habe ich ihn aggressiv erlebt – bis der Gehirntumor sich seiner bemächtigte, sein Wesen veränderte und ihn schließlich dahinraffte. Meine Mutter ist 86 Jahre alt. Regelmäßig fahre ich zu ihr, um sie zu unterstützen. Auch sie klagt nie. Wenn sie an meinen Vater denkt, bekommt sie feuchte Augen und denkt an die harten und glücklichen Jahre mit ihm. Sie klagt auch nicht, wenn sie die Mund-Nasen-Bedeckung aufsetzt.
Ich war Bundeswehr-Offizier. Das Damokles-Schwert eines Krieges, gar eines Atomkrieges, schwebte ständig über mir, meinen Kameraden, den Soldaten der anderen Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes sowie der Bevölkerung vieler, gar aller Länder – nicht nur in Europa. Ich bin froh und dankbar dafür, dass es nie dazu kam. Wir blieben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Jahrzehnte in Deutschland, ja in fast ganz Europa, von Kriegen verschont. Das können sehr viele Menschen in sehr vielen anderen Ländern nicht sagen. Jetzt, da ich diesen Text schreibe, sterben Menschen in Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen in vielen Ländern. Nicht nur Soldaten, oder solche, die das von sich behaupten, sondern Unbeteiligte. Das war schon immer so in Kriegen. Die nichts damit zu tun hatten oder damit zu tun haben wollten, mussten trotzdem darunter leiden.
Im Libanon leben je nach Zählweise und Schätzung etwa eine knappe halbe Million palästinensische Flüchtlinge, die meisten davon seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern. Angefangen hat das 1948 mit der Staatsgründung Israels, fortgesetzt hat es sich in mehreren Wellen durch weitere kriegerische Auseinandersetzungen. Etwa 1,5 Millionen Syrer leben als Flüchtlinge im Libanon. Dazu kommen kurdische und irakische Flüchtlinge. Der Libanon hat insgesamt etwa 6,2 Millionen Einwohner. Einst war der Libanon das Frankreich des Nahen Ostens, Beirut das Paris des Nahen Ostens. Jetzt gibt es in weiten Teilen der Hauptstadt Beirut kein oder nur rationiertes Wasser und Strom.
Wann immer ich will, drücke ich auf einen Knopf der Fernbedienung und streame einen Film aus dem Marvel-Universum mit Superhelden im Krieg gegen Bösewichte. Strom, Wasser, Abwasser, Müllabfuhr, Telefon, Internet – alles jederzeit da.
Derzeit habe ich gesundheitliche Probleme, die mir starke Schmerzen verursachen. Rund um die Uhr und auch mitten in der Nacht kann ich die 116117 (Ärztlicher Bereitschaftsdienst) oder die 112 (Notruf) anrufen. Ersteres habe ich schon getan. Nach 5 Minuten Ersterfassung bekam ich nach etwa 20 Minuten den Anruf vom Bereitschaftsarzt aus Mainz. Andere haben nicht nur Schmerzen, Ihr Leben hängt von der ärztlichen Versorgung ab. Ich werde es wohl bis zur nächsten Woche mit dem Medikament Novalgin (Wirkstoff Metamizol-Natrium) überbrücken. An ein Medikament zu kommen, ist in Deutschland geradezu ein Klacks, selbst wenn man mal einen Tag warten muss. Selbst, wenn es noch etwas länger dauert. Meine Mutter braucht bestimmte Medikamente. Sie ruft nachmittags beim Arzt an. Die Praxis bringt das Rezept zur Apotheke. Am nächsten Morgen hole ich das Medikament in der Apotheke ab und bringe es meiner Mutter. Wenn ich das nicht machen würde, brächte die Apotheke am Abend die Medikamente zu meiner Mutter. In einem europäischen Flüchtlingslager gibt es eine Rattenplage. In europäischen Flüchtlingslagern gibt es unzureichende ärztliche Versorgungslagen.
Kriege, Vertreibung, Notlagen, Flüchtlinge. Aber selbst, wenn es Ländern gut geht, geht es Menschen schlecht.
In Deutschland gibt es die Tafel, die ehrenamtlich Hilfsbedürftige mit Essen versorgt. Bei uns in Rheinhessen gibt es die Tafel beispielsweise in Oppenheim, die zweimal in der Woche Lebensmittel austeilt. Schon seit langem ist die Nachfrage so hoch, dass mit Ausweisfarben die Abholungszeiten geregelt werden. Die Tafel-Organisation „Feeding America“ schätzt, „dass 50 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten 2020 nicht genug zu essen hatten. Vor der Pandemie waren es 35 Millionen. Und: Der Hunger hat die Mittelklasse erreicht.“ Egal, ob 35, 40 oder 50 Millionen: Über 10 Prozent der Bevölkerung eines sehr reichen und großen westlichen Landes können nicht selbst für ihre Ernährung sorgen und sind auf andere angewiesen.
Das klingt alles irgendwie schlimm, und das ist es auch. Doch es verschafft mir eine Perspektive und setzt in Relation, wie es mir geht. Es geht mir gut, und ich schaue zuversichtlich auf das nächste Jahr. Denn ich bin Optimist. Aus Prinzip.
Ich bin ein Optimist. Es scheint mir nicht allzu viel Sinn zu machen, etwas anderes zu sein.
– Winston Churchill (zugeschrieben)
Ich bin dankbar. Dafür, dass es Manuela und mir so gut geht. Das wollte ich einfach mal loswerden. Und gleich mal ein paar Wünsche loswerden.
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Ich wünsche Euch frohe Weihnachten, schöne Feiertage und einen guten Start in ein gutes Jahr 2021!