Heute wird es persönlich. Ich beichte von meinem Leben neben Mistkaut und Kuhstall. Denn am Punkt 16 „Portal der ehemaligen Schaffnerei“ des Rundwegs der Kaiserpfalz Ingelheim wird der Spaziergang zu einer persönlichen Reise in meine Vergangenheit.
Es ist vor ein paar Tagen, dass ich den Rundweg der Kaiserpfalz Ingelheim gehe. Der Rundweg ist nicht lang. Es ist deutlich eher ein Spaziergang denn eine Wanderung. Doch plötzlich stehe ich vor Punkt 16 des Rundwegs, dem Portal der ehemaligen Schaffnerei, als mich meine Vergangenheit einholt.
Ich bestaune ein wunderbar renoviertes zweistöckiges Gebäude. Zuckerberg 26, 55218 Ingelheim am Rhein. An seiner rechten Seite ist ein holzenes Hoftor mit zwei Gaubenfenstern darüber, rechts daneben ist noch eine Bruchsteinmauer. Das Haupthaus hat im oberen Stockwerk fünf Fenster. Im Erdgeschoss sind es vier Fenster, in der Mitte ist die Eingangstür. Der Türrahmen ist aus rotem Sandstein, mit einem Doppeladler und der Jahreszahl 1612 im Sturz. Ursprünglich stammt das Türgewände aus der kurpfälzischen Schaffnerei, die ab 1576 im Bereich der Aula Regia lag.
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Neben Mistkaut und Kuhstall
Bis 1980 war das Portal in einem Wohnhaus des Zuckerbergs verbaut. Deswegen kann ich mich an das Sandsteinportal auch nicht erinnern. Wahrscheinlich könnte ich mich nicht daran erinnern, selbst wenn es damals zu meiner Zeit am Zuckerberg 26 angebracht gewesen wäre. Denn ich habe dort in diesem Haus von 1961 bis 1965 meine ersten vier Lebensjahre verbracht. Zu dieser Zeit war das Haus ein Bauernhof, und durch das Hoftor fuhr Bauer Schmidt mit seinem Trecker. Im Innenhof herrschten Schäferhund Hasso und (zumindest in meiner Vorstellung) ich.
Meine Eltern hatten sich zu Beginn der Fünfzigerjahre beim Spargelstechen bei Ingelheim kennengelernt und 1955 geheiratet. Bei der Suche auf dem knappen Wohnungsmarkt half schließlich ein Zufall. Meine Mutter arbeitete damals im Hotel „Erholung“ (Binger Straße 92 in Ingelheim, inzwischen geschlossen). Der Koch kaufte sich ein Haus, und dadurch wurde seine Wohnung am Zuckerberg frei. Meine Eltern zogen in eine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss. Es gab ein Schlafzimmer, eine Küche, keine Toilette und kein Wasser. Wer würde heutzutage noch in eine Wohnung ziehen, in der es keine Toilette und kein Wasser gibt?
Als meine Ankunft drohte, zogen meine Eltern in die größere Wohnung im ersten Stock. Welch ein Luxus: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Gästezimmer! Und fließendes Wasser! Gebadet wurde ein Mal in der Woche in einer verzinkten Blechwanne, bei schönem Wetter im Hof. Allerdings gab es immer noch keine Toilette im Haus. Die Toilette war im Hof, neben der Mistkaut (Nische für den Misthaufen) und dem Kuhstall. Irgendwann hatte ich sogar einen Hasen, der war in einem kleinen Hasenstall auf der Mauer der Mistkaut.
Gelegentlich kamen Kusinen von mir oder andere Verwandte. Der Hof war mein Reich, mein Refugium. Irgendwann, wenn ich bereit dafür bin, suche ich alte Fotos von damals heraus und hänge sie in diesen Beitrag. Vielleicht sogar von mir in einer verzinkten Blechwanne.
Schmidts hatten noch ein Spargelfeld bei Schwabenheim. So fuhren sie gelegentlich mit ihrem alten Trecker von Ingelheim bis nach Schwabenheim, das war damals ein Tagesausflug. Apropos Ausflug: Eines Tages wollte ich meinen Vater bei der Rückkehr von der Arbeit abholen. Ich nahm am Kindergarten die falsche Richtung, und irgendwann brachte mich irgendwer wieder nach Hause.
1965 schließlich ging es in die große Welt. Auf der Suche nach Baugrund wurden meine Eltern im Odenwald fündig. Mein Vater war ein gebürtiger Rheinhesse aus Schwabenheim an der Selz. Meine Mutter ist aus Höchst im Odenwald und war in den Fünfzigern auf der Suche nach Arbeit zum Spargelstechen nach Rheinhessen gekommen. In Höchst im Odenwald gab es 1964 günstigen Baugrund, und so zogen wir um in die (für mich) Fremde. Das Haus war riesig im Vergleich zu unserer Wohnung bei Schmidts. Zwei abgeschlossene Wohnungen. Meine Eltern und ich waren im Obergeschoss, darunter zogen meine odenwälder Omi und Tante ein. Jede Wohnung hatte fließendes Wasser und ein Bad mit Toilette und Badewanne. Später, als ich 10 Jahre älter war, bekam ich dann auch meine Schäferhündin Anja.
Ich wuchs im Odenwald auf, mit gelegentlichen Besuchen in der alten Heimat. Mit 19 ging ich als Offizieranwärter zur Bundeswehr und in die Fremde. Der Zufall führte mich zurück nach Rheinhessen und 1999 sogar mit Manuela in unsere erste gemeinsame Wohnung in Schwabenheim an der Selz, dem Ort meines Vaters.
Mittlerweile wohnen wir seit 2012 in Selzen, ebenfalls an der Selz und in Rheinhessen, meiner Wieder-Heimat.
Jetzt kennt Ihr „die wahre Geschichte„.