Rheinhessen: Das größte Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges? Hätte der Schlieffen-Plan funktioniert, dann würde man heutzutage, über hundert Jahre nach der Schlacht um Verdun, womöglich von der Schlacht um Mainz sprechen.
Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.
(Helmuth Karl Bernhard von Moltke. (29. August 2018). Wikiquote, Die freie Zitatsammlung. Abgerufen am 22. November 2019, 07:14)
Im Rahmen meiner Ausbildung zum Kultur- und Weinbotschafter Rheinhessen lege ich am Montag meine erste Prüfung ab. Als Thema für den Vortrag habe ich die Selzstellung gewählt. Aus dem Handout heraus habe ich diesen Artikel erstellt. Handout und Artikel geben die Sachverhalte verkürzt und stark vereinfacht wieder.
Inhaltsverzeichnis
Die Vorgeschichte
Rheinhessen und Mainz waren immer wieder Opfer durchziehender Heere. So zogen die Schweden im Dreißigjährigen Krieg und später die Franzosen im Pfälzischen Erbfolgekrieg und in den Koalitionskriegen marodierend durch das Land. Allein Mainz war eine Festung.
Aufgrund der historischen Spannungen mit Frankreich war Mainz weiterhin stark befestigt – zunächst als Bundesfeste und später als Reichsfestung mit österreichischen, preußischen und hessischen Truppen. Der Rhein als natürliches Hindernis bot eine stabile Verteidigungslinie.
Die Technologie
Nach 1870/71 war die Grenze mit Frankreich durch das Reichsland Elsaß-Lothringen weit weg von Mainz. Die Befestigungen von Mainz und seinen Forts bestanden aus der typischen Bauweise mit Ziegelmauern und Erdwällen. Zwei technologische Entwicklungen veränderten die Lage grundlegend.
- Schlachten und Gefechte wurden mobiler und raumfüllender geführt durch die modernen Transportmittel Zug und Automobil.
- Reichweite und Explosionskraft der Artillerie stieg durch die neuen Brisanzgranaten immens an. Die Kanonen hatten gezogene Läufe, die den aerodynamischen Geschossen eine stabile Flugbahn verschafften. Hochbrisanter Sprengstoff ersetzte das schwache Schwarzpulver.
Der Plan
Ab Ende des 19. Jahrhunderts liefen intensive Planungen für einen absehbaren Krieg mit Frankreich. Generalfeldmarschall Alfred von Schlieffen entwickelte den „Schlieffen-Plan“:
- Die verstärkten Hauptkräfte des deutschen Heeres sollten Frankreich im Nordwesten quer durch das neutrale Belgien hindurch überfallen.
- Im Südwesten sollten die verbliebenen schwachen Kräfte des deutschen Heeres das angreifende französische Heer zunächst hinhalten, um sich dann bis zur Niederlage Frankreichs zum „Bollwerk Mainz“ und vielleicht sogar über den Rhein zurückzuziehen.
Der deutsche Kaiser erließ im Jahr 1900 eine Allerhöchste Kabinettsorder zur Befestigung der „Selzstellung“ bei Harxheim und Ebersheim. Vorgelagert sollte von Laubenheim aus über Mommenheim und an der Selz entlang nach Heidenfahrt eine neue Befestigungslinie entstehen. Damit sollten Mainz und seine Forts sicher vor direktem Beschuss durch die schwere französische Artillerie sein.
Anmerkung: Der ursprüngliche Schlieffen-Plan wurde von Helmuth Johannes Ludwig von Moltke überarbeitet, einem Neffen Helmuth Karl Bernhard von Moltkes.
Die Umsetzung
Die älteren Befestigungen am Rand von Mainz sowie vorgelagerte Forts wurden durch Sandschichten und Stahlbeton verstärkt. Der Bau der neuen Festungslinie „Selzstellung“ in einem Kreisbogen etwa 10 bis 20 Kilometer vor Mainz begann im Jahr 1908. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden die Baumaßnahmen intensiviert. Nach Kriegsbeginn waren teilweise bis zu 30.000 Soldaten in der Selzstellung.
Die Selzstellung bestand aus über 350 unterschiedlichen Befestigungswerken in neuer Bauweise aus Beton. Dabei befanden sich beispielsweise Munitions- und Materiallager sowie Kommunikationseinrichtungen, aber auch Infanterie- und Artilleriestellungen. Es gab eine umfangreiche Infrastruktur zur Wasserversorgung und eigene Bahnlinien. Sogar eine eigene Zahnradbahn führte von Ingelheim zum Westerberg hinauf. Dabei war die Selzstellung nicht von vornherein voll ausgebaut. Im Angriffsfall sollten die Bauwerke mit gelagertem Material verstärkt und von weiteren Truppen besetzt werden.
Die neuen Befestigungswerke waren nicht als monolithischer Festungswall, sondern als lockere Kette von Bauwerken konstruiert. Die einzelnen Werke konnten sich gegenseitig Feuerschutz geben und das Durchbrechen feindlicher Infanterie vermeiden. Damit war die Selzstellung eine moderne und zentrale Verteidigungsanlage sowie ein Vorläufer der Maginot-Linie und des Westwalls im zweiten Weltkrieg.
Die Geschichte
Zunächst lief es nach Plan. Belgien wurde überrannt, die eigene schwere Artillerie zerstörte das (allerdings veraltete) Fort von Lüttich. Doch in Frankreich stockte der deutsche Feldzug. Anstatt ihre Kräfte im Süden zu konzentrieren, erfolgte der Gegenangriff des französischen Heeres an der Marne. Es kam zum Stellungskrieg auf französischem Boden. Der Ausbau der Selzstellung wurde 1916 eingestellt, während in Frankreich vor Verdun zehn Monate lang die Schlacht aller Schlachten tobte:
Zeitweilig über 4.000 Geschütze im Kampfgebiet. Stündlich 10.000 Granaten und Minen. 50 Millionen Artilleriegranaten und Wurfminen. Über zwei Millionen Soldaten im Einsatz. Je nach Analyse 150.000 bis 200.000 Tote und 350.000 bis 600.000 Verletzte auf beiden Seiten. Heute noch zeugen alte Narben von der Schlacht.
Bei einem anderen Verlauf des Krieges wäre es womöglich nicht zur Schlacht um Verdun, sondern zur Schlacht um Mainz gekommen. Somit war der Schlieffen-Plan ein guter Plan für Rheinhessen, denn er überlebte das Zusammentreffen mit den Franzosen nicht.
Und ich kann immer wieder beim #SunriseRun den Sonnenaufgang über dem unbehelligten Selztal erleben.
Weblinks
Zum Stöbern und Vertiefen:
- Bollwerk Mainz. Die Selzstellung in Rheinhessen: Büllesbach, Rudolf / Hollich, Hiltrud / Tautenhahn, Elke. München 2014. Erhältlich im Buchhandel (beispielsweise Amazon).
- Bollwerk Mainz
- Die Selzstellung in Rheinhessen (Regionalgeschichte.net)
- Deutsche Einigungskriege (Wikipedia)
- Exkurs: Brisanzgranate (Festungen.info)
- Festung Mainz (Wikipedia)
- Festungen.info
- Geschichte von Mainz als Festung und Garnison von der Römerzeit bis zur Gegenwart: Börckel, Alfred. Mainz 1913. (Gutenberg Capture der Universitätsbibliothek Mainz, PDF-Download, 95 MB)
- Granate (Wikipedia)
- Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (Wikipedia)
- Helmuth von Moltke (Generalfeldmarschall) (Wikipedia)
- Im Westen nichts Neues (Wikipedia, über das Buch)
- Im Westen nichts Neues (1930) (Wikipedia, über den Film)
- Maginot-Linie (Wikipedia)
- Mainz als Reichsfestung 1870/71-1918 (Festung Mainz)
- Rheinhessen in Vergangenheit und Gegenwart: Brillmayer, Carl Johann. Gießen 1905. (Gutenberg Capture der Universitätsbibliothek Mainz, PDF-Download, ca. 143 MB)
- Schlacht an der Marne (1914) (Wikipedia)
- Schlacht um Verdun (Wikipedia)
- Schlieffen-Plan (Wikipedia)
- Schrapnell (Wikipedia)
- Westwall (Wikipedia)