Am 1. April fotografiere ich den Sonnenaufgang über der Fleckenmauer von Flörsheim-Dalsheim. Die Fleckenmauer ist die einzig vollständig erhaltene mittelalterliche Dorfbefestigung in Rheinhessen. Und ich erlebe die Kerze von Flörsheim-Dalsheim.
Irgend etwas stimmt nicht. Der Wecker meines Smartphones trötet. Verwirrt öffne ich die Augen. Ich versuche, mich zu orientieren. Ich liege in einem fremden Bett. Oh, was ist … aber Manuela liegt neben mir. Langsam, während ich den nervenden Wecker am Smartphone deaktiviere, wird mir klar, dass wir in einem Doppelzimmer des Gästehauses vom Weingut Beyer-Bähr in Flörsheim-Dalsheim sind und hier übernachten. Flörsheim-Dalsheim liegt zwischen Alzey und Worms, nur eine halbe Stunde mit dem Auto von Selzen entfernt (Google Maps). Gestern Abend war das Vorabend-Treffen des Vinocamps Rheinhessen. Es wurde etwas später… Aber wieso nervt das Smartphone? Jetzt schon? Es ist erst kurz vor 6 Uhr, und draußen ist es noch dunkel! Habe ich vielleicht die falsche Zeit …
Endlich weiß ich, wieso der Wecker schrillte: Ich will Fotos vom Sonnenaufgang über der Fleckenmauer von Flörsheim-Dalsheim machen! Um 6 Uhr rauscht eine SMS von Marion Rockstroh-Kruft rein. Sie ist die Initiatorin und Organisatorin des Vinocamps Rheinhessen und will sich meiner Einladung (wie leichtsinnig von mir!) eines gemeinsamen Fotoshootings anschließen. Wie es denn aussähe, fragt Marion. Ob wir denn zum Fotografieren raus wollten. Manuela murmelt irgend etwas, vermutlich eine ähnliche Frage. Ich vertröstete beide und springe unter die Dusche und kurz darauf durch die Terrassentür auf die Terrasse. Wolken. Aber auch Sterne am Himmel. Ich bin verunsichert. Aber jetzt bin ich wach. Und wenn ich schon mal wach bin…
Gegen 6:30 Uhr treffen Marion, Manuela und ich uns beim Wagen. Wir fahren an den Ortsausgang von Dalsheim, wo die B271 nach oben in Richtung Autobahn führt, und dort stelle ich den Wagen am Straßenrand ab. Um 7:04 Uhr soll die Sonne aufgehen. Marion und ich kramen im Kofferraum herum und unser Zubehör wie die Stative hervor. Zu dritt stehen und laufen wir dann herum, machen Fotos und unterhalten uns.
Die Wolkendecke scheint dichter zu werden. Doch am Horizont, über der Rheinebene und über dem Odenwald, ist eine Lücke in der Wolkendecke, eine dünne Schicht. Es sieht so ähnlich aus, wie im letzten Monat über der Katharinenkirche Oppenheim. Damals wurde die Wolkendecke immer kleiner und rissiger. Ob das auch heute so klappt? Immerhin ist der Himmel noch bunter, rötlicher, orangefarbener als damals. Auf der Rheinebene liegt eine dünne Nebeldecke.



Aber die Wolkenlücke scheint schmaler zu werden. Gleichzeitig scheinen sich direkt über dem Odenwald die Wolken stärker emporzuschieben. Um 7:11 Uhr verbirgt sich die Sonne immer noch hinter den Wolken direkt über dem Odenwald.

Diese Wolkenschicht direkt über dem Odenwald will einfach nicht verschwinden. Ich versuche einen erneuten Positionswechsel. Nur ein paar Meter. Und dann sehe ich, dass die Sonne so langsam steigt, die Wolken übersteigt, und sich auf die Kirche zubewegt. Es muss sich um die katholische Kirche St. Peter und St. Paul in Dalsheim handeln:
Im Zuge der Reformation kam die Kirche in den Besitz der Reformierten, fiel aber 1705 bei der pfälzischen Kirchenteilung an die Katholiken zurück. In den 1780er Jahren wurde das Kirchengebäude außer dem Turm und den Umfassungsmauern des Chors niedergelegt und ein Neubau durch den Wormser Dompropst und das Wormser Kapitel errichtet. Die Weihe des neuen Gotteshauses fand am 4. September 1785 statt.
(Regionalgeschichte.net: St. Peter und St. Paul in Dalsheim)
Und dann sieht es aus, als ob die Kirche wie eine Kerze brennt.
Die Kerze von Flörsheim-Dalsheim

Genau über dem Kirchenturm von St. Peter und Paul scheint die Sonne. Endlich! Eine große helle Kerzenflamme! In der Rheinebene liegt immer noch der Bodennebel. Jetzt frage ich mich aber endlich, wieso die Fleckenmauer eigentlich „Flecken„-mauer heißt? Und wie alt ist sie?
Einen Flecken bezeichnete ein Dorf, das einen besonderen Status Inne hatte. Es war meist ein ländlicher Mittelpunktort mit Marktrecht und nahm für das Umland eine zentralörtliche Funktion war. Das Baurecht für unsere Fleckenmauer erhielten wir 1395 von dem Pfalzgrafen Ruprecht II.
[…]
Nach neuesten Erkenntnissen muss das Bauwerk zwischen 1470 und 1490 als einheitlicher Neubau fertig gewesen sein. Die Befestigung ist ca. 1100 m lang und ist mit unbehauenen Kalksteinen gemauert worden. An der höchsten Stelle steigt sie bis ca. 10 Meter an. Der Wehrgang wird von den Arkaden getragen, die die Mauer stützen. Alle 7 Türme sind noch erhalten.
(Flörsheim-Dalsheim: Fleckenmauer)
Ich mache es Marion nach und verändere nochmals die Position, gehe etwas weiter nach links, und schiebe die Stativ-Beine zusammen. Jetzt blickt die Kamera durch den Weinberg mit seinen Reben, Pfosten und Drähten.

Die Fleckenmauer ist lange nicht so alt wie die beiden Ortsteile Dalsheim und Flörsheim, deren Ursprünge liegen bei den Franken:
Gegründet wurden die beiden Ortsteile Dalsheim und Flörsheim wahrscheinlich im 6. Jahrhundert. Nachdem die Franken die Alemannen besiegten, ließen sich die fränkischen Krieger in der Region nieder und gründeten so genannte Heime. Ein gewisser Dagolf ließ sich mit seiner Sippe in Dalsheim nieder, das aus diesem Grund früher Dagolfesheim genannt wurde und Flarides gründete Fletersheim, Fleresheim, später Niederflörsheim.
(Flörsheim-Dalsheim: Zur Geschichte)
Franken, Römer … viele Ortschaften in Rheinhessen gehen auf sie zurück. Doch wenig ist aus deren Zeit in Rheinhessen wirklich übermittelt. Vieles Schriftliches gab es nicht, oder es ging verloren. Oft gibt es heutzutage für Informationen über Gemeinden und Ortschaften nur eine Quelle, den Lorscher Codex:
Der Lorscher Codex (lateinisch Codex Laureshamensis) ist ein ungefähr zwischen den Jahren 1170 und 1195 in der Reichsabtei Lorsch angelegtes Manuskript. Es enthält eine umfangreiche Klostergeschichte, ein Kopialbuch von über 3800 Urkunden sowie einige Urbare. Der besondere Wert vor allem des Kopialbuches liegt darin, dass die darin enthaltenen Abschriften die einzige erhaltene Überlieferung der vollständig verloren gegangenen Originalurkunden darstellen, die sich einst im Archiv der bedeutenden Reichsabtei befunden hatten.
Aber jetzt wird es Zeit. Heute beginnt das Vinocamp Rheinhessen, und wir wollen noch in Ruhe im Weingut Beyer-Bähr frühstücken. Ich freue mich schon sehr darauf. Ich weiß zwar noch nicht, dass das Frühstück dort sehr, sehr lecker sein wird, aber ich weiß, dass ich in einer „Kuhkapelle“ frühstücken werde. Aber das mit den Kuhkapellen in Rheinhessen, das ist eine andere Geschichte.
Frostiger Sonnentag in Rheinhessen
Knapp drei Wochen später. Es ist mittags am Donnerstag, dem 20. April, und ich sitze im Auto auf dem Weg von Mainz nach Flörsheim-Dalsheim. Heute morgen hatte ich einen geschäftlichen Termin in Mainz. Als ich davor in Selzen losfuhr, war es kalt, sehr kalt, und sehr sonnig. Das immer noch sonnige Wetter will ich nutzen und die Fleckenmauer noch einmal, diesmal bei Tageslicht, fotografieren. Im SWR-Radio höre ich von schlimmen Frostschäden in Rheinhessen („Frostschäden: Ausfallrate bei Weinreben zwischen 10 und 95 Prozent„). Heute nachmittag werden mir das die Winzer auf dem Selzer Wochenmarkt bestätigen.
Jetzt aber freue ich mich über das schöne Wetter und fahre die B271 hinunter nach Flörsheim-Dalsheim. Von hier oben habe ich noch einen wunderbaren Blick auf die Rheinebene. Passend dazu kommt ein Parkplatz, auf dem ich kurzentschlossen den Wagen abstelle. Ich gehe ein paar Meter in Richtung Hang und habe dort eine sehr schöne Sicht auf die Rheinebene und Flörsheim-Dalsheim. In der Ebene hat sich wie am 1. April aufgrund des kalten Bodens und der scheinenden Sonne eine feuchte Dunstschicht gebildet. Ich schaue mir hier oben die Weinreben an, in diesen Weinbergen scheinen die Triebe unbeschädigt.
Zurück am Wagen fahre ich nach Flörsheim-Dalsheim hinunter und biege ich kurz davor links ab. Ich stelle den Wagen ab und gehe ein Stück in die Weinberge hinein. Jetzt bin ich etwa 100 Meter unterhalb der Stelle, wo ich am Morgen des 1. April mit Marion und Manuela war und die Fotos machte. Ich stelle mein Stativ auf, mache ein paar Fotos und probiere unterschiedliche Perspektiven aus.
Von hier aus wirkt die Fleckenmauer viel eindrucksvoller als von da oben aus. Aber da war Dämmerlicht, und die Sonne schien mir entgegen. Ich steige in meinen Wagen und fahre in den Ortsteil Dalsheim hinein, kurve ein wenig herum und stelle den Wagen dann ab. Dann schnappe ich mir wieder Stativ und Kamera und laufe ein wenig in die Ortschaft und um die Mauer herum und mache noch ein paar Fotos.
(diese Fotos sind im Flickr Fotoalbum „Fleckenmauer Flörsheim-Dalsheim„)
Hm, jetzt habe ich zwar die Fleckenmauer gesehen und fotografiert, aber gerne möchte ich noch etwas mehr über die Fleckenmauer, die Ortschaft und ihre Geschichten erfahren.
Spaziergang entlang der Fleckenmauer
Vielleicht nehme ich demnächst bei einem Spaziergang entlang der Fleckenmauer teil. Von Mai bis Oktober gibt es geführte Spaziergänge entlang der Fleckenmauer. Dabei erfahre ich etwas über die Kirchen, den jüdischen Friedhof und die Geschichte des Dorfes (jeden Samstag um 17.00 Uhr auf dem Römer, auch separat als Gruppe buchbar).
Jetzt aber fahre ich wieder zurück nach Selzen. Unser Katzen sind bestimmt hungrig. Ich will noch etwas arbeiten und danach zum Ausklang zur Winetime auf dem Selzer Wochenmarkt gehen.